Mit neuen Manipulationspraktiken will der Staat seine Bürger lenken.
Von ANDREAS VON WESTPHALEN, 23. Juli 2015 –
Es begegnet uns im Supermarkt, in der Kantine, auf der Autobahn, auf der Zigarettenpackung, in Form einer Erinnerung an den bevorstehenden Zahnarzttermin. Oftmals erhalten wir einen kleinen „Schubser“, der uns zu einem gewünschten Verhalten verleiten möchte. Wir werden genudget.
Von der Unternehmenswelt in die Politik
Die vielfältigen Einflussmöglichkeiten durch Nudges (Englisch für „Stups“ oder „Schubs“) untersuchten die US-Amerikaner Richard Thaler, Professor für Verhaltensökonomie, und Cass Sunstein, Rechtswissenschaftler an der renommierten Harvard University. Ihre Publikation Nudge: Wie man kluge Entscheidungen anstößt gilt als Standardwerk dieser neuen Strategien. Es geht um jenen kleinen Schubs, den ein „Entscheidungsarchitekt“ den Menschen geben möchte. So beeinflussen beispielsweise die Platzierung der Produkte im Supermarkt unseren Konsum, die genaue Anordnung der Speisen in einer Kantine unser Essverhalten, freundliche Aufforderungen zur Verringerung der Geschwindigkeit unser Fahrverhalten.
Die unendliche Vielfalt der Nudging-Möglichkeiten bedient sich der Erkenntnisse, die die Verhaltensökonomie aus der Psychologie gewonnen hat. Es erstaunt nicht, dass Unternehmen Nudging im großen Stil einzusetzen versuchen, um das Konsumverhalten der Kunden zu manipulieren. Ebenso wenig erstaunt es, dass auch die Politik das Nudging für sich entdeckt hat. So beauftragte US-Präsident Barack Obama im Jahr 2009 Cass Sunstein mit der Führung des „Office of Information and Regulatory Affairs“, die der Rechtswissenschaftler bis 2012 innehatte.(1) Die britische Regierung gründete das „Behavioural Insights Team“, das ganz ungeniert den Beinamen „Nudge Unit“ trägt und bis zu seiner Privatisierung im Jahr 2014 eine reine Regierungsbehörde war.(2) Mit etwas Verspätung hat nun auch die Bundesregierung die Möglichkeiten von Nudging erkannt: Kanzlerin Angela Merkel machte sich im vergangenen Sommer auf die Suche nach dem passenden Fachpersonal für eine Gruppe im Kanzleramt, die die „Entwicklung alternativer Designs von politischen Vorhaben“ vorantreiben soll.(3)
Der Mensch steht sich selbst im Weg
„Wenn Menschen genug Erfahrung haben, umfassend informiert sind oder wenn sie hinsichtlich der Qualität ihrer Entscheidung sofort Feedback erhalten, darf man annehmen, dass sie sich richtig entscheiden“(4), schreiben Thaler und Sunstein. Das ist aber leider eher selten der Fall. Die beiden Autoren stützen sich auf die Forschung der Verhaltensökonomie, um einige grundsätzliche Hindernisse aufzuzeigen, die mitverantwortlich sind, dass Menschen Entscheidungen treffen, die ihrem eigenen Interesse widersprechen:
– Optimismus. So kennen beispielsweise viele Raucher das allgemeine Gesundheitsrisiko, unterschätzen aber dennoch das persönliche. 90 Prozent aller Autofahrer glauben, dass sie sich besser als der Durchschnitt im Verkehr verhalten. Insgesamt sind 80 Prozent der Bevölkerung unrealistisch optimistisch.
– Verlustaversion. Sie beeinflusst das Verhalten massiv, denn Menschen hassen Verluste doppelt so sehr, wie sie sich über Gewinne freuen.
– Herden-Mentalität. Experimente zeigen, dass Menschen für sich allein stets die richtige Antwort auf sehr simple Fragen finden. In einer Gruppe jedoch sind sie leicht zu einer absurden Antwort zu manipulieren.
– Framing-Effekt. Er ist dafür verantwortlich, dass Menschen Entscheidungen von der Darstellung der Entscheidungsmöglichkeiten abhängig machen. So hängt die Wahrscheinlichkeit, ob Patienten einer riskanten Operation zustimmen, davon ab, wie der Arzt die Risiken präsentiert.
– Fehlende Projektion in die Zukunft. Eine Studie belegt, dass kurzfristige Entscheidungen oft getroffen werden, weil man das zukünftige Eigeninteresse nicht als Teil seines gegenwärtigen Selbst wahrnimmt.
Steuerungsmöglichkeiten
Es gibt zwei grundsätzliche Positionen, die der Staat einnehmen kann. Auf der einen Seite eine Haltung des Laissez-faire, das dem Menschen eine uneingeschränkte Freiheit lässt, auch wenn sein Verhalten ihm selbst schadet. Auf der anderen Seite steht ein regulierender Staat, der durch harte Sanktionen (zum Beispiel Strafen für Drogenkonsum) oder bevormundende Anreize (Tabaksteuer) das gewünschte Verhalten zu erzwingen sucht. Thaler und Sunstein plädieren für einen Mittelweg, den sie entsprechend „libertären Paternalismus“ taufen.
Notwendige Rahmenbedingungen
In „Why Nudge?“, Sunsteins zweitem Buch zu diesem Thema, präsentiert er die grundlegenden Kriterien des libertären Paternalismus. Dieser respektiert die Wünsche des Einzelnen und versucht einzig die Wahl ihrer Mittel durch entsprechende Nudges zu beeinflussen. Sunstein betont, es sei das Ziel des Nudges, „die Wahl dergestalt zu beeinflussen, dass der Wählende sich besser fühlt, nach eigener Einschätzung“.(5) Das dritte Kriterium des libertären Paternalismus ist Entscheidungsfreiheit. Ein Nudge ist keiner mehr, wenn es keine Wahlmöglichkeit gibt. Dann ist es eine Verpflichtung.(6) Eine vom Entscheidungsarchitekten vorgegebene Standardauswahl muss zudem ohne Aufwand, am besten mit einem Mausklick, zu umgehen sein. Als prägnantes Beispiel für einen Nudge nennt Sunstein das GPS. Es bietet eine Wahloption an, die dem Menschen hilft, das eigene Ziel zu erreichen, die dieser aber auch problemlos ignorieren kann.
Positives Potenzial
Thaler und Sunstein präsentieren eine Reihe erfolgreicher und sinnfälliger Nudges, die bereits existieren. Nur aufgrund seiner Positionierung in der Schulkantine steigt der Verzehr von Obst um 25 Prozent. Die Zeichnung einer Fliege in den Pissoirs auf dem Amsterdamer Flughafen hat die Treffgenauigkeit der Männer um 80 Prozent gesteigert und dadurch Verunreinigungen verringert. Und die Änderung der Standardeinstellung des Druckers, grundsätzlich beidseitig zu drucken, hat einen positiven Effekt auf Umwelt und Geldbeutel.
Um das Potenzial zu demonstrieren, das eine geschickte Einstellung der Standardvorgabe haben kann, wenden sich die Autoren der betrieblichen Rentenversicherung in Großbritannien zu. Obwohl ein gesetzlicher Anspruch besteht, hat gerade einmal die Hälfte der Arbeitnehmer eine solche abgeschlossen. Thalers und Sunsteins Lösung lautet, der Arbeitgeber solle die Standardvorgabe beim Arbeitsvertrag so umgestalten, dass sie zu einer automatischen Beitrittsregelung führt, wenn der Arbeitnehmer dieser nicht widerspricht.
In einigen Ländern wie in Deutschland gilt für Organspenden die sogenannte Zustimmungsregelung, die besagt, dass sich ein Bürger aktiv als Spender registrieren lassen muss. In anderen Ländern hingegen herrscht die Widerspruchslösung, wo der Bürger so lange als Spender gilt, bis er dagegen Widerspruch einlegt. In diesen Ländern ist die Spendenbereitschaft höher.(7) Thaler und Sunstein befürworten daher, dass eine Erklärung zur eigenen Spendenbereitschaft als einfacher Zusatz im Führerschein zur Pflicht erhoben wird. Jeder Mensch würde also nicht willkürlich zum Spender, sondern es wäre Bürgerpflicht, eine Entscheidung über die eigene Spendenbereitschaft zu fällen.
Da die Autoren sich der Wirkung von Standardvorgaben bewusst sind, weisen sie auf das Problem der Wahlzettel hin. Laut einer Studie bekommt der Erstgenannte auf einem Wahlzettel aufgrund seiner prominenten Platzierung etwa 3,5 Prozent mehr Stimmen. Aus diesem Grund plädieren die Autoren hier konsequent für eine Auflösung der Standardvorgabe und eine Anordnung der Namen nach dem Zufallsprinzip.
Nudges im Sinne von Thaler und Sunstein gehen oftmals grundsätzlich mit dem Wunsch nach Einfachheit und Transparenz einher. Entsprechend lautet die Forderung der Autoren, dass zum Beispiel Banken alle Gebühren von Krediten und Hypotheken auflisten müssen. Gleiches fordern sie von Netzbetreibern und Krankenversicherungen. Diese sollten dazu verpflichtet werden, ihren Kunden Jahresberichte zukommen zu lassen, in denen alle Leistungen, Medikamente und Gebühren aufgelistet sind, und so einen einfachen Preis-Leistungs-Vergleich ermöglichen.
Soziale Nudges
Es ist hinlänglich bekannt, dass das soziale Umfeld das Verhalten des Einzelnen beeinflusst. Thaler und Sunstein wollen aus diesem Grund auch soziale Nudges gezielt einsetzen. Eine Kampagne in Montana (USA) verbreitete den Hinweis, 70 Prozent der Teenager seien Nichtraucher. Tatsächlich reduzierte sich danach der Anteil der Raucher. In einer Studie in Kalifornien wurden Menschen darüber informiert, wie hoch ihr eigener und der durchschnittliche Energieverbrauch anderer Haushalte in der gleichen Gegend sei. Als grafisches Signal erhielten Haushalte mit überdurchschnittlichem Verbrauch einen traurigen Smiley, Stromsparer einen lächelnden. Daraufhin schränkten die Energieverschwender ihren Verbrauch überdurchschnittlich ein, die Energiesparer sparten weiterhin. Und eine Studie wies nach, dass einzig der Hinweis, 90 Prozent der Bürger hätten bereits ihre Steuer ordnungsgemäß und vollständig bezahlt, zu einer deutlichen Verbesserung der Zahlungsmoral führt.
Manchmal gehen Nudges in der Realität auch über freundliche Schubser hinaus. So hat sich die britische Regierung unter Premier David Cameron ausgedacht, dass säumige Steuerzahler nicht nur eine Mahnung erhalten, sondern dazu auch ein Foto ihres jeweiligen Autos – begleitet von der Warnung, das Fahrzeug könnte eingezogen werden, wenn die Steuerschuld nicht beglichen würde. Die Tilgungsraten haben sich seitdem verdreifacht.(8) Dieses Beispiel zeigt eindrücklich die Gefahr, dass der „sanfte“ Paternalismus schnell die Vorstufe zum harten Paternalismus sein kann.(9)
Der soziale Pranger
Die Autoren stehen den Möglichkeiten des sozialen Nudges positiv gegenüber und zitieren die Idee eines Kolumnisten der New York Times, die Menschen sollten ein Schmuckstück tragen, das durch seine Farbe die aktuelle CO2-Bilanz des Besitzers signalisiert. Sein Kommentar: „Warum soll man nicht eifrige Umweltschützer dadurch belohnen, dass wir ihnen die Möglichkeit geben, ihre Tugenden zur Schau zu stellen?“(10) Ganz in diesem Sinne ist auch das Gedankenspiel der Autoren zu verstehen, die von der Möglichkeit schwärmen, auf einer Webseite den Energieverbrauch des Einzelnen und den der Nachbarschaft zu Vergleichszwecken anzuzeigen. Thaler und Sunstein sprechen hierbei von einem „freundschaftlichen Konkurrenzkampf“, der dadurch entstünde. Diese Anwendung, die im australischen New South Wales bereits in die Praxis umgesetzt worden ist,(11) kann aber auch sehr schnell zu einem sozialen Pranger werden.
Wahlfreiheit
Die Frage, inwiefern das Individuum angesichts von Nudges noch frei sei, beantworten Sunstein und Thaler präventiv in ihren Büchern. Standardvorgaben sind ihrer Ansicht nach allgegenwärtig und unvermeidlich. Man denke an die Standardeinstellungen bei der Installation eines Computerbetriebssystems oder einer neuen Software. Darum sei es „weltfremd, vom Staat zu verlangen, sich einfach herauszuhalten“.(12) So sei beispielsweise eine Nicht-Einmischung in das Essverhalten in einer Kantine nicht möglich, da jede Präsentation der Speisen unser Verhalten beeinflusst. Daneben würden viele Entscheidungen ohnehin täglich für uns gefällt, ohne dass wir uns dessen bewusst sind – seien es Normierungen oder rechtliche Rahmenbedingungen. Wir müssten uns keine Gedanken darüber machen, ob ein Auto sicher ist, wie schnell man fahren darf oder ob ein Hühnerei noch haltbar ist. Hätten wir hingegen viel mehr Entscheidungen selbst zu treffen, wäre unsere Unabhängigkeit in Gefahr, denn wir hätten kaum mehr Zeit, uns auf diejenigen Entscheidungen zu konzentrieren, die uns tatsächlich selbst betreffen. Somit vergrößere der Paternalismus paradoxerweise die Freiheit.
Ist also Nudging ein Freiheitsgewinn? Bei einigen Arten von Nudges sicherlich. Grundsätzlich ist dies aber diskussionswürdig. Denn oftmals scheinen Thaler und Sunstein den Begriff Freiheit auf die Wahlfreiheit zu reduzieren. Daher kritisiert die Volkswirtschaftlerin Karen Horn: „Wenn Freiheit nur noch aus der defensiven Möglichkeit zum Veto und nicht aus Rechten besteht, ist sie nicht mehr Freiheit. Rechte kommen bei den libertären Paternalisten nicht vor. Ihre Programmatik zielt allein auf Effizienz.“(13)
Ebenso ist die Manipulation des Menschen durch Nudging kritisch zu hinterfragen. Auch wenn Thaler und Sunstein darauf bestehen, dass der Mensch möglichst leicht die Standardeinstellung ändern können muss, ist dies ein wenig naiv gedacht. Gerade weil Nudging effizient ist, wie eine Reihe von Studien belegen, folgt daraus, dass die konkrete Entscheidungsarchitektur Einfluss auf die Entscheidung des einzelnen Menschen hat und damit seine Freiheit einschränkt, selbst wenn seine Wahlfreiheit erhalten bleibt.(14)
Autonomie
In einer Welt des Nudging lautet eine zentrale Frage, wie bei der Entscheidung über den Einsatz eines Nudges genau beurteilt werden kann, ob dieser die von Thaler und Sunstein genannte Grundvoraussetzung erfüllt, nämlich „die Wahl dergestalt zu beeinflussen, dass der Wählende sich besser fühlt, nach eigener Einschätzung“.(15) Sunstein entgegnete auf diese Frage bei einer Veranstaltung der Betreiber des verfassungsblog.de in der Berliner Humboldtuniversität im Januar dieses Jahres, diese Entscheidung treffe der Wählende – und nur der Wählende.(16) Unklar dabei bleibt, wie dies garantiert werden soll und wie überhaupt herausgefunden werden kann, was der Einzelne wünscht. Insbesondere dann, wenn Nudging vom Staat eingesetzt wird, liegen mögliche Risiken auf der Hand. So wird Nudging immer dann bedenklich, wenn es direkt in das Leben des Einzelnen eingreift und dessen persönliche Freiheit möglicherweise beschneidet.
Transparenz
Die Beurteilung von Nudging steht und fällt insbesondere mit dem Ausmaß der Transparenz. Der Ökonom Jan Schnellenbach beurteilt das Nudging daher kritisch: „Das Verhalten der Menschen wird gesteuert, ohne dass die Menschen es merken. […] Der sanfte Paternalismus funktioniert vor allem dann gut, wenn die Begleitumstände intransparent sind.“(17)
Man muss Thaler und Sunstein zugutehalten, dass sie dieses Problem durchaus ernst nehmen. So erklären sie: „Wenn die Regierung solche Regeln (juristische Standardvorgaben) verändert – etwa um mehr potentielle Organspender zu gewinnen –, darf kein Geheimnis daraus gemacht werden. Ebenso verhält es sich mit Informationskampagnen, die sich verhaltenspsychologischer Erkenntnisse bedienen.“(18)
Inwiefern die Regierungen, die derzeit ein reges Interesse an Nudging an den Tag legen, diesen mahnenden Zeigefinger beachten, muss kritisch hinterfragt werden. So dokumentiert gerade die fehlende Transparenz bei Lebensmitteln, die ein hervorragendes Feld für positives Nudging sein könnten, dass Regierungen eher weniger an Transparenz interessiert sind. So besteht zum Beispiel noch immer keine Kennzeichnungspflicht für genmanipulierte Lebensmittel. Produzenten haben lediglich das Recht, damit zu werben, wenn ein Produkt frei von genmanipulierten Inhaltsstoffen ist.
Nudging hätte unter anderen Vorzeichen sicher positive Potenziale. Gefährlich ist jedoch sein Potenzial zur Manipulation, das in einer freiheitlichen und demokratischen Gesellschaft nichts verloren hat. Daher ist eine gesellschaftliche Debatte gerade über die Frage der Transparenz und der Inhalte einzelner Nudges – so sie überhaupt erkannt und bekannt werden – zwingend notwendig. Insbesondere dann, wenn die Bundesregierung die „Entwicklung alternativer Designs von politischen Vorhaben“ vorantreiben will.
Der Artikel erschien zuerst in Hintergrund, Heft 2, 2015