Ein letzter Versuch, den Realitäten ins Auge zu schauen –
Ein Kommentar von Peter VONNAHME, 14. Juli 2015 –
Der Brüsseler Vergewaltigungsmarathon ist seit einem Tag vorüber. Griechenland ist weichgekocht. Ministerpräsident Tsipras wurde nach 17-stündigem Ringen erfolgreich genötigt, sein Land „retten“ zu lassen. Er stand als einsamer Bittsteller eines heruntergekommenen Landes gegen eine Front von 18 „Geberländern“ (teilweise mit großen eigenen Schuldenproblemen) sowie EZB und IWF. Er wollte verhindern, dass Millionen seiner Landsleute hungern, erkranken, obdachlos werden, verzweifeln, sich umbringen. Sein erklärtes Ziel war es, die zerstörerische Austeritätspolitik zu beenden.
|
Der Autor: Peter Vonnahme war bis zu seinem Ruhestand im Jahr 2007 Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof. Seit einigen Jahren meldet er sich zu aktuellen politischen Fragen mit seinen Essays zu Wort.
|
Es war frühzeitig abzusehen, dass er keine Chance hatte, sich der von Schäuble, Merkel & Co. ersonnenen Daumenschrauben zu erwehren. Denn hätte er den angestrebten Schuldenschnitt erreicht, dann hätte das unweigerlich die Gefahr begründet, dass auch andere in Finanznöten steckende südeuropäische Länder das griechische („kommunistische“) Modell übernehmen. Es hätte hohe Ansteckungsgefahr bestanden. Nichts weniger als die Systemfrage wäre unversehens im europäischen Raum gewesen. Das aber wollten Griechenlands Zuchtmeisterunter allen Umständen vermeiden, zumal in Spanien Parlamentswahlen vor der Tür stehen. Ein Erfolg von Tsipras und seiner Syriza-Partei hätte unweigerlich die Siegeschancen ihrer spanischen Schwesterpartei Podemos und deren charismatischen Vorkämpfers Iglesias erhöht. Und dann Portugal? Italien? Frankreich? Die Gefahr eines Dammbruchs bestand. Das durfte nicht sein. Also musste Tsipras scheitern. Zumindest darin waren sie sich einig. Deshalb unterbreiteten sie dem Griechen ein Angebot, das er ohne Gesichtsverlust nicht annehmen konnte.
Kürzlich schrieb ich an Freunde: „Was wir zurzeit erleben, ist im Grunde nicht der Kampf Griechenlands gegen die EU (bzw. der Kampf der Syriza-Regierung Tsipras/Varoufakis gegen die EU-Wortführer Juncker, Schulz und Dijsselbloem). Es ist weit mehr. Es ist der ultimative Kampf des Großkapitals und seiner Erfüllungsgehilfen gegen einen Kommunismus griechischer Spielart“. Die Schlacht ist entschieden, die drei großen G – Geld, Gier und Gewinn – haben gesiegt.
Das griechische Drama geht in die nächste Runde – Einzelheiten eines Giftcocktails
Das nun durchgepaukte 3. Hilfspaket verpflichtet Griechenland unter anderem zur drastischen Anhebung der Mehrwertsteuer und des Renteneintrittsalters, zur Einrichtung eines Treuhandfonds unter europäischem Kuratel, zur Privatisierung von Häfen und Flughäfen und sonstigem Staatseigentum. Der Verkaufserlös soll nur zu einem geringen Teil im Land investiert werden, der weitaus größere Teil soll der Schuldenabsicherung dienen. Der für die Sanierung Griechenlands notwendige Schuldenschnitt scheiterte insbesondere am deutschen Widerstand. Außerdem musste der griechische Ministerpräsident zusagen, dass das griechische Parlament einige Reformvorschläge bis Mittwoch verabschiedet. Für eine ausreichende inhaltliche Prüfung des für Griechenlands Zukunft äußerst bedeutsamen Maßnahmepakets durch die Volksvertretung wurde keine Zeit zugestanden. Eine größere Missachtung von Verfassungsorganen ist kaum vorstellbar. Der Vorgang verdeutlicht, dass die europäischen Institutionen Griechenland inzwischen als Protektorat betrachten, das nur noch den Willen des Protektors umzusetzen hat. Es gilt die Devise: Vogel friss oder stirb! Interessant wäre, was das Bundesverfassungsgericht sagen würde, wenn dem deutschen Gesetzgeber von außen eine derartige Verfahrensweise angesonnen würde. Der amerikanische Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman kommentierte das Vorgehen der Retter treffend: Das sei nicht mehr Strenge, das sei schiere Rachsucht und vollständige Zerstörung nationaler Souveränität, ohne Hoffnung auf Abhilfe. Es sei ein grotesker Verrat an allem, wofür das europäische Projekt eigentlich stehen sollte. Ergänzend hierzu die Einschätzung von Sahra Wagenknecht: „Die Annahme des vorgeschlagenen Pakets läuft auf die Fortsetzung des fatalen Giftcocktails von Kürzungspolitik und sich verschärfender Wirtschaftskrise hinaus“; dies habe in den letzten Jahren ein Viertel der griechischen Wirtschaftskraft zerstört und die griechischen Schulden immer weiter erhöht.
Noch ist nicht sicher, ob dieses Hilfsprogramm, das seinen Namen nicht verdient, jemals wirksam wird. Ihm müssen nämlich neben dem griechischen auch andere nationalen Parlamente zustimmen. Die verbleibende Zeit kann genutzt werden, zurückzublicken, zu verstehen und einen vorsichtigen Blick in die Zukunft zu wagen.
Ein unverzichtbarer Blick zurück
Viele der gegen Griechenland erhobenen Vorwürfe sind berechtigt. Das Land hat lange über seine Verhältnisse gelebt, es hat irrsinnige Kredite aufgenommen. Oligarchen haben sich schamlos bereichert, Klientels wurden begünstigt. Steuerbetrug war an der Tagesordnung. Schuld an den heutigen Verwerfungen sind – sieht man von renditesüchtigen privaten Kreditgebern ab – die Griechen selbst. Niemand sonst.
Die entscheidende Frage ist jedoch, wer für die katastrophalen Fehlentwicklungen der letzten Jahrzehnte politisch verantwortlich ist. In den deutschen Medien wurde wenig differenziert. Vorwürfe richteten sich zumeist gegen „die Griechen“ im Allgemeinen oder – nicht weniger schräg – gegen die neue Syriza-Regierung im Besonderen. Da letztere aber erst seit gut fünf Monaten im Amt ist, kann sie Kritik logischerweise nur sehr eingeschränkt treffen. Sie hat ein schweres Erbe übernommen und sollte allein schon deshalb etwas milder beurteilt werden.
Die Hauptschuldigen stehen fest: PASOK und NeaDimokratia! Diese beiden Parteien haben das Land in unterschiedlichen Konstellationen und mit augenzwinkernder Unterstützung ihrer europäischen Schwesterparteien in den Abgrund gestürzt. Als das griechische Volk dies – leider viel zu spät – erkannt hat, übertrug es einer anderen Partei, der linksradikalen Syriza, die Macht.
Sinnvoll kann die Frage also nur lauten: Haben Tsipras, Varoufakis und Genossen in der kurzen Zeit ihrer Regierung Fehler gemacht und das Elend ihrer Landsleute verschlimmert?
Die von deutschen Kommentatoren immer wieder erhobenen Vorwürfe gegen Finanzminister Varoufakis wegen seines Benehmens und seines Arbeitsstils lasse ich außen vor, da ich nicht Zeuge der Brüsseler Verhandlungen war und mir diesbezüglich kein eigenes tragfähiges Bild machen kann. Der Hauptbelastungszeuge gegen Varoufakis ist Minister Schäuble. Wer aber diesen Besserwisser im TV erlebt hat, wie er mit herablassender Arroganz und eitler Selbstgefälligkeit über seinen wort- und weltgewandten griechischen Ministerkollegen hergezogen ist („dümmlich, naiv“), wird ihm schwerlich professionelle Distanz zubilligen können. Ich halte Schäuble überdies wegen seiner eingeschränkten persönlichen Glaubwürdigkeit (Strafverfahren Spendenaffaire, Verdacht auf Meineid) als Gewährsmann für wenig tauglich. Das hat jedoch die einheimische Journaille nicht davon abgehalten, Schäubles von erkennbarer Antipathie getragene Abwertungen seines Kollegen als Quell der reinen Wahrheit zu verbreiten. Nebenbei: Dem hämischen Zyniker Schäuble ist das miserable aktuelle Deutschlandbild in Griechenland und anderswo maßgeblich zu verdanken. Das ist nicht allein seiner Härte in der Sache geschuldet, sondern der unübersehbaren Geringschätzung eines in Not befindlichen Landes und seiner Vertreter.
Ob Varoufakis bei den Verhandlungen geschickt war oder ob er provoziert hat, ist für Außenstehende schwer zu beurteilen. Feststeht, dass er von der ersten Stunde an eine extrem schwierige Rolle innehatte. Infolge seines Rücktritts lohnt es sich heute nicht mehr, dieser Frage vertieft nachzugehen. Sein Nachfolger Euklides Tsakalotos ist offensichtlich geschmeidiger. Das Maßnahmenpaket, das er letzte Woche nach Brüssel geschickt hat, unterscheidet sich kaum von den harten Forderungen der EU, die das griechische Volk in einem Referendum mit 61 Prozent abgelehnt hat. Es darf vermutet werden, dass die griechische Regierung angesichts leerer Kassen, geschlossener Banken und verzweifelter Menschen keinen anderen Ausweg mehr sah als beizudrehen.
Alexis Tsipras ist im griechischen Drama zum tragischen Helden geworden. Er ist vor einem halben Jahr angetreten, um sein Land aus der europäischen Bevormundung zu befreien. Er kämpfte mit Charisma und Chuzpe für dieses Ziel, ging ein hohes Risiko ein, als er seinem Volk im Referendum die Ablehnung des europäischen Rettungspakets empfahl – und er gewann triumphal. Das stärkte sein Ansehen und seine Macht im Land beträchtlich. Deshalb ging er gestärkt und zuversichtlich in die nächste Verhandlungsrunde nach Brüssel. Er kämpfte hingebungsvoll – und verlor trotzdem auf der ganzen Linie. Er hatte gegen die strategische Übermacht der Geldgeber keine reelle Chance. Seither sitzt er in einer Zwickmühle. Was immer er tut oder unterlässt, es ist falsch. Er kann seine Zustimmung nicht mehr verweigern, weil er beim Brüsseler Krisengipfel zuletzt zugestimmt hat. Noch weniger kann er die Annahme des Pakets empfehlen, weil es viel schlechter ist als das, was er vor Wochenfrist abgelehnt hat. Aus diesem Dilemma gibt es im Grunde nur zwei denkbare Auswege, eine nochmalige Volksabstimmung oder Neuwahlen. Aber beide Wege führen nicht zum Ziel. Sie beanspruchen viel zu viel Zeit, die er nicht hat. Beides würde unweigerlich Bankenpleite, Zahlungsunfähigkeit des Staates und den „Grexit“ nach sich ziehen. Genau das wollte Alexis Tsipras aber vermeiden.
Gefahrenpotentiale, strukturelle Schwächen und wenig Hoffnung auf Abhilfe
Inzwischen steht nicht nur das Schicksal Griechenlands auf dem Spiel, sondern im Falle des nach wie vor drohenden „Grexit“ der Fortbestand der Eurozone und – zu Ende gedacht – sogar die Europäische Union. Auch die Wahrscheinlichkeit eines „Brexit“ würde steigen. Überdies hätte ein Ausscheren Griechenlands Fernwirkungen auf die Südostflanke des NATO-Systems. Angesichts dessen zeugt es nicht von staatsmännischem Denken, wenn von deutscher Seite nationale Wirtschafts- und Finanzinteressen zum alleinigen Maßstab für Entscheidungen historischen Ausmaßes gemacht wurden. Das sichert zwar die Deutungshoheit über den Stammtischen und die wohlfeile Wählergunst. Es wird aber dem europäischen Friedensprojekt und dem Solidaritätsgedanken nicht gerecht.
Die Gefahr für das „Wohlstands- und Friedensprojekt Europa“ ist beträchtlich. Wenn es scheitert, dann ist der Grund hierfür nicht Griechenland. Dazu ist dessen wirtschaftliche Bedeutung viel zu gering. Das griechische Bruttoinlandsprodukt beträgt gerade mal 1,2 Prozent der europäischen Wirtschaftsleistung. Tsipras und Varoufakis sind somit nicht der Grund für die europäische Krise, sie sind nur deren Indikatoren. Wenn das europäische Schiff ins Schlingern gerät, dann ist die Ursache in der politischen Schwäche des EU-Systems und seines Führungspersonals zu sehen. Letzteres ist durch die aktuellen Großprobleme (neben der Staatsschuldenkrise mehrerer Länder, die Gefahr eines britischen EU-Austritts, die Ukraine-Krise, die sinnvolle Positionierung zu Russland, das ungelöste Flüchtlingsproblem, die Orientierungslosigkeit in Energie- und Klimafragen, usw.) offensichtlich überfordert. Lähmendes Mittelmaß à la Schulz, Juncker, Tusk, Draghi, Merkel, Hollande, Cameron, Schäuble, Gabriel bringt Europa schleichend an den Rand des Abgrunds. Die deutsche Kanzlerin lässt sich zwar gerne als mächtigste Frau der Welt feiern. Wenn aber in einer existenziellen Krise echte politische Führung nötig wäre, dann taucht sie ab und lässt ihren Pressesprecher verkünden, dass Griechenland seine Hausaufgaben machen soll. Bei besonderen Anlässen raunt sie bedeutungsschwanger: „Scheitert der Euro, dann scheitert Europa“ ohne jedoch erkennbare Konsequenzen aus dieser Einsicht abzuleiten. Das ist zu wenig.
Die Griechenland-Krise hat gezeigt, dass es Europa nicht an Geld fehlt. Davon scheint reichlich vorhanden zu sein. Zu den aktuell ausgereichten Krediten für Griechenland sollen demnächst noch weitere gut 80 Milliarden Euro dazukommen. Was Europa dringend braucht, ist nicht Geld, sondern visionäre und tatkräftige Staatsmänner/frauen vom Format eines de Gaulle, Adenauer, Schumann, Spaak oder Brandt. Doch die kann man bekanntlich nicht von Bäumen pflücken.
Und wie weiter?
Natürlich würde ich mir wünschen, dass die von Syriza angekündigten Reformen schon weiter gediehen wären. Aber ich kann mir vorstellen, dass einer Regierung, die vom ersten Tag an voll durch die extrem schwierigen Verhandlungen mit der Troika (den „Institutionen“) ausgelastet war, mildernde Umstände zuzubilligen sind. Entgegen der herrschenden Stammtischmeinung ist es nicht einfach, in kürzester Zeit einen verlotterten Staat zu sanieren. Eine Verwaltung, die noch vom tief verankerten Widerstand gegen die osmanische Besatzung und von Korruption geprägt ist, auf mitteleuropäische Standards zu bringen, ist eine Lebensaufgabe. Möglicherweise müssen die Griechen erst zu einem neuen Staatsverständnis finden.
Steuern eintreiben, Kapitalabflüsse unterbinden, Reeder heranziehen, das klingt alles sehr einfach. Aber es setzt unter anderem eine funktionierende Finanzverwaltung, ein Liegenschaftskataster und ordentliche Gesetze voraus. Wer ein bisschen Ahnung von Verwaltung hat, weiß, dass auch das Jahre dauern wird. Nebenbei: Die (wünschenswerte!) Besteuerung der griechischen Großreeder erfordert nichts weniger als eine Verfassungsänderung. Und das wiederum geht nicht ohne viel Überzeugungsarbeit und qualifizierte Mehrheiten in den Gesetzgebungsorganen.
Wie schwierig Steuerreformen sind, zeigt das zehnjährige vergebliche Bemühen der Merkel-Bundesregierungen. Selbst der Großredner Schäuble hat es nicht geschafft, die Reformbemühungen hierzulande entscheidend voranzubringen. Die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Reform des Erbschaftssteuergesetzes ist über die Diskussionsphase nicht hinausgekommen. Mehr noch, Schäuble ist es nicht einmal gelungen, in Jahren sprudelnder Steuereinnahmen auch nur einen Cent der deutschen Staatsschulden von mehr als 2.000.000.000.000 € abzutragen. Aber „die Griechen“ sollen ihre viel schwierigeren Aufgaben über Nacht machen. Wer so etwas fordert, zeigt, dass er entweder von Verwaltungswirklichkeit wenig Ahnung hat oder seinen politischen Gegner schlechtreden will.
Das alles ist natürlich kein Freibrief für Tsipras. Er muss sich gewaltig anstrengen und Vertrauen in die Reformierbarkeit seines Landes schaffen. Da war er wohl zu zögerlich. Aber es ist gewissenlos, ihn zu weiteren Einschnitten in die Sozialstandards seiner ohnehin bereits notleidenden Bevölkerung zu drängen. Ich habe in meiner eigenen griechischen Verwandtschaft erlebt, was es für bürgerliche Familien bedeutet, wenn das Familieneinkommen über Nacht um 40 Prozent schrumpft. Ich würde denen, die großmäulig von „Hausaufgaben machen“ und „sparen“ reden, mal zu einem Selbstversuch raten.
Der immer wieder gehörte Hinweis, dass es in einigen baltischen oder osteuropäischen Staaten Menschen gibt, die mit noch weniger Geld auskommen müssen, mag richtig sein, aber er ist dennoch zynisch. Zu Ende gedacht bedeutet das nämlich, dass man die niedrigsten Sozialstandards der EU zum Maßstab für das Erstrebenswerte macht. Solches Denken verstößt gegen Fundamentalnormen des EU-Vertragsrechts. Ethisch (und christlich!) wäre es, wenn die reichen EU-Staaten von ihrem Reichtum so viel abgeben würden, dass den Schwachen und Elenden geholfen werden kann – sowohl in Griechenland als auch anderswo. Aber es ist so viel bequemer, von Versagen und Schuld zu sprechen als großherzig zu helfen.
Schuldenschnitt
Die Lösung kann nicht sein, dass zu den Krediten in Höhe von 320 Milliarden weitere 80 Milliarden nachgereicht werden. Das würde allein dazu führen, dass alte Schulden mit neuen Schulden bezahlt werden. Die Gelder würden bildlich gesprochen die Sonne Griechenlands ein paar Stunden sehen, um dann sogleich wieder in die Tresore deutscher, französischer und englischer Banken zurückzufließen.
Nötig ist vielmehr ein deutlicher Schuldenschnitt, wie Deutschland ihn nach dem Zweiten Weltkrieg in der Londoner Schuldenkonferenz von 1953 erhalten hat. Das wäre wirtschafts- und finanzpolitisch folgerichtig. Ich habe noch keinen Ökonomen gesehen, der meint, dass Griechenland die erdrückenden Staatsschulden jemals wird abtragen können. In anderen Worten: Die Rückzahlungsansprüche stehen auf dem Papier, sie sind jedoch weitgehend wertlos, Ramschniveau. Gleichwohl will Merkel davon nichts wissen. Vielmehr sagt sie mit der Miene der sparsamen schwäbischen Hausfrau: „Ein nominaler Schuldenschnitt kommt für uns nicht infrage“. Allenfalls ein Hinausschieben des Schuldendienstes sei denkbar. Vorsorglich hat sie nicht hinzugefügt „auf den Sankt-Nimmerleins-Tag“. Der Grund für diese Zurückhaltung liegt auf der Hand. Es wäre das stille Eingeständnis des Scheiterns der insbesondere von ihr und Schäuble geförderten Rettungspolitik. Diesen Gesichtsverlust will man sich natürlich sparen.
Man kann es nicht oft genug wiederholen: Mit dieser Politik ist Mutti krachend an die Wand gefahren. Die 320 Milliarden sind futsch oder – etwas vornehmer ausgedrückt – sie sind perdu. Der deutsche Anteil daran beträgt satte 80 Milliarden.
Die Rettungspakete hatten überdies den grandiosen Nebeneffekt, dass Gläubiger der griechischen Staatsschulden heute nicht mehr die Banken und die privaten Spekulanten sind, sondern die europäischen Steuerzahler. Die Erstgenannten haben verständlicherweise ausgelassene Freudentänze aufgeführt. Der explodierende Dax war die passende Begleitmusik dazu. Die Letztgenannten, also wir, taten das, was wir immer tun. Wir fügten uns in dem Bewusstsein, dass es uns gut geht (O-Ton Merkel), in das Unvermeidliche und freuten uns, wenn die Kanzlerin treuherzig in die Kamera grinste und dazu die Hände zu ihrer unvergleichlichen Raute faltete.
Spekulationen
Wenngleich bei den Brüsseler Verhandlungen echte Solidarität mit den Menschen auf der Strecke blieb, so ist zumindest wieder etwas Zeit gewonnen – und sei es nur bis zum nächsten Notfall. Man muss kein Hellseher sein, um zu erkennen, dass das Elend der Griechen weitergehen wird und zwar in schlimmerer Form als bisher.
Große Staaten wie Spanien, Italien, Frankreich sind nach Experteneinschätzung noch längst nicht aus dem Schneider. Sollten diese Schwergewichte Hilfe brauchen, dann geht es um ganz andere Dimensionen der Hilfe. An die Sanierung der um die Aufnahme in die EU nachsuchenden Ukraine will ich gar nicht erst denken. Das könnte die EU tatsächlich überfordern.
Was ein irgendwann vielleicht unvermeidlicher Grexit für Europa und Deutschland bringen wird, kann nach meiner Beobachtung heute niemand seriös voraussagen. Aber vielleicht gibt es dann ein 4. Rettungspaket. Unser aller Kanzlerin wird es dann schon richten. Und ihre bewährte Raute machen.
|